ORLAN hat mich schon begeistert, als ich noch in die Schule ging. Da war eine Künstlerin, die sich plastisch-chirurgisch entgegen der Normschönheit operieren ließ und das dann noch filmte! Schon etwas irritierend für einen Teenager auf der Suche nach sich selbst. Soweit ich mich erinnere, fand ich das damals radikal und wahnsinnig cool. Dann sah ich frühere Arbeiten von ORLAN wieder in der Sammlung Verbund – etwas „Se vendre nur les marchés en petits morceaux“, wo sie Fotos von Teilen ihres Körpers auf einem Markt feilbot.
![ORLAN, Se vendre sur les marchés en petits morceaux [Sich auf dem Markt in kleinen Stücken verkaufen], 1976 © ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / SAMMLUNG VERBUND, Wien](https://i0.wp.com/artemisia.blog/wp-content/uploads/2023/03/Bildschirmfoto-2023-03-16-um-22.13.58.png?resize=810%2C808&ssl=1)
Voriges Jahr im Sommer war ich dann auf Urlaub in Frankreich. Und, was für ein Glück, ausgerechnet zu der Zeit in Toulouse, als ORLAN in den dortigen Abattoirs eine fantastische Retrospektive zeigte. Da zeigte sich die Komplexität, die Vielfalt, auch der Humor in ihrem Werk, meine Tochter war vor allem von ihrem Orlanoïde, einem Roboter, fasziniert.
ORLAN mag es nicht, wenn man sie als Performancekünstlerin bezeichnet. Schließlich arbeitet sie mit so vielen Medien. Als ich ein Foto aus der Toulouser Ausstellung, auf der auch ihr „L’origine de la guerre“ war, auf Facebook postete, gab es Entrüstungsstürme. Die Paraphrase auf Courbets „L’origine du monde“, in der ORLAN den nackten Unterleib zeigt, stößt bis heute viele Männer vor den Kopf. Offenbar fühlen sie sich angegriffen und glauben, ORLAN unterstelle ihnen Kriegslust. Dabei geht es hier einerseits um die ironische Interpretation einer kunsthistorischen Ikone, in der das Weibliche sexualisiert und mystifiziert wird, und andererseits um das Patriarchat an sich als etwas Todbringendes.
![ORLAN, L'Origine de la guerre [Der Ursprung des Krieges], 1989
© ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / SAMMLUNG VERBUND, Wien](https://i0.wp.com/artemisia.blog/wp-content/uploads/2023/03/ORLAN-LOrigine-de-la-guerre201288X105CM-cibachrome-Kopie.jpg?resize=810%2C689&ssl=1)
© ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / Sammlung Verbund, Wien
Gabriele Schor, die verdienstvolle Leiterin der feministisch ausgerichteten Sammlung Verbund, brachte nun ORLANs Arbeiten nach Wien sowie (gemeinsam mit Catherine Morris) eine umfassende Publikation heraus. „Es gibt kaum eine Künstlerin, die sich seit sechs Jahrzehnten so intensiv der Öffentlichkeit ausgesetzt hat“, schreibt Gabriele darin. „Ihre Performances thematisieren kulturelle, politische und gesellschaftliche Bedingungen, unter denen sich der weibliche Körper zu behaupten hat.“
Dass ich ORLAN in ihrem Pariser Atelier interviewen konnte, war für mich ein echter Glücksfall. Auch wenn es aufgrund der Sprachbarriere (ORLANs Englisch ist so gut wie mein Französisch) nicht so einfach war, trotz der Übersetzung durch ihren charmanten Assistenten. Das Interview, das ihr hier findet, ist daher ein Amalgam – Teile davon wurden schriftlich beantwortet.
![ORLAN, ORLAN accouche d’elle m’aime [ORLAN gebiert ihr geliebtes Selbst], 1964 © ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris Bildrecht, Wien 2023 / SAMMLUNG VERBUND, Wien](https://i0.wp.com/artemisia.blog/wp-content/uploads/2023/03/Bildschirmfoto-2023-03-16-um-22.17.37.png?resize=810%2C590&ssl=1)
artemisia.blog: ORLAN, 1964 schufen Sie die Fotoarbeit „Orlan accouche d’elle meme“. Darin zeigen Sie sich selbst mit einer Puppe, einer Art Double. Sie meinten dazu, dass Sie sich selbst neu geboren hätten. Damals waren Sie erst 17. Wie kamen Sie darauf, dass Sie sich selbst neu erfinden müssten?
ORLAN: Das war eine Frage der Emanzipation von Stereotypen. Ich wuchs in einem kleinen Ort in Frankreich auf, da war das wirklich notwendig.
Hatten Sie Role Models?
Nein. Damals gab es kein Internet und kein Handy, es waren keine Quellen verfügbar.
Was war es dann, das Sie inspirierte? Fiel das einfach vom Himmel?
Es waren die gesellschaftlichen Umstände.
![ORLAN, Le Baiser de l’Artiste [Der Kuss der Künstlerin], 1977 © ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / SAMMLUNG VERBUND, Wien](https://i0.wp.com/artemisia.blog/wp-content/uploads/2023/03/ORLAN_Le-Baiser-de-lArtiste_21.jpg?resize=538%2C1024&ssl=1)
Später erregten Sie Aufsehen mit Ihrer Arbeit „Le baiser de l’artiste“: Auf der FIAC 1977 boten Sie Küsse zum Verkauf an. Sie kosteten nur ein paar Franc. Warum so billig?
Damit es sich alle leisten konnten. Da waren viele Leute, die reich waren. Doch ich wollte die Kunst nicht nur für sie machen. Daher waren die Küsse nicht teuer.
Für Sie waren sie aber schon teuer. Schließlich habe Sie wegen der Aktion Ihren Job verloren, oder?
Teuer war die ganze Aktion. Ich musste auch die Skulptur produzieren und mit dem Auto aus Lyon nach Paris bringen. Das kostete damals sehr viel für mich. Danach war es natürlich auch sehr schwierig, ohne Job und ohne Geld.
Sie wurden überhaupt öfter heftig angegriffen für Ihre Kunst.
In der Kunst gibt es noch mehr Aggression als in anderen Bereichen des Lebens. Es ist schwierig, Neues zu machen. Schon über die Impressionisten sagten die Leute, ihre Kunst sei keine oder hässlich. Und wenn eine Frau schwanger wäre, würde sie beim Anblick ihrer Malerei sofort ihr Kind bekommen!
![ORLAN, 7e opération-chirurgicale-performance «Omniprésence» [7. chirurgischer Performance-Eingriff, genannt »Omnipräsenz«] New York, 1993 © ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / SAMMLUNG VERBUND, Wien](https://i0.wp.com/artemisia.blog/wp-content/uploads/2023/03/Bildschirmfoto-2023-03-16-um-22.14.36.png?resize=810%2C536&ssl=1)
Als Sie ihren Körper in plastisch-chirurgischen Operationen verändern ließen, waren da die Reaktionen auch so heftig?
Ich fürchte keinen Widerstand! Die Idee dieser OPs war, gegen Stereotype zu kämpfen. Ich bin nicht gegen kosmetische Chirurgie, sondern gegen das, was wir damit machen. Ich wollte zeigen, dass Schönheit dem Diktat der dominanten Ideologie unterworfen ist. In der Rezeption gab es aber viele Missverständnisse. Es hieß, ich hätte 114 Operationen gemacht. Und dass ich die größte Masochistin aller Zeiten sei – obwohl meine Bedingung war, dass ich bei den Operationen keine Schmerzen hätte. Es gibt zwei Arbeiten: meine und die, die von den Medien orchestriert wurde.

© ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023 / Sammlung Verbund, Wien
Wie würden Sie das Schönheitsdiktat heute betrachten, in Zeiten von TikTok and Instagram?
Mein ganzes Leben habe ich dagegen gekämpft, dass Frauen Objekte sind – und für ihre Befreiung. Aber ich habe den Eindruck, dass es nichts genutzt hat. Jetzt bewegt sich alles wieder rückwärts. Die heutigen Influencerinnen propagieren dieselben Stereotype von Frauen, wie sie damals gängig waren: blond und langhaarig. Wir sind am selben Punkt angelangt, an dem wir vor 60 Jahren waren. Mehr und mehr Leute folgen diesen Influencerinnen. Für mich ist das schrecklich.
Andererseits gibt es Strömungen wie Body Positivity. Was denken Sie darüber?
Ja, das gibt es. Aber es sind Ausnahmen. Sie reichen nicht aus, um ein Gegengewicht zu bilden.
![ORLAN, Self-hybridation entre femmes (acte 2: Les femmes qui pleurent sont en colère n°9) [Selbstkreuzung unter Frauen (Akt 2: Frauen, die weinen, sind wütend, Nr. 9)], 2019 © ORLAN / Courtesy Ceysson & Bénétière, Paris / Bildrecht, Wien 2023](https://i0.wp.com/artemisia.blog/wp-content/uploads/2023/03/Bildschirmfoto-2023-03-16-um-22.10.42.png?resize=810%2C581&ssl=1)
Sie beziehen sich oft auf die Kunstgeschichte, zuletzt auf Picassos Frauenporträts in „Le Femmes qui pleurent sont en colère“ („Die weinenden Frauen sind zornig“). Wie kam es dazu?
Das ist eine Serie hybrider Fotografien, die ich schuf, um die Frauen im Schatten zu zeigen: die Modelle, die Musen, die Inspirierenden. Ich hinterfrage die Position der Frauen in der Kunst ebenso wie den Status des Körpers innerhalb des kulturellen, traditionellen politischen und religiösen Drucks, der auf Frauen herrscht.
Wenn Sie die Situation von Künstlerinnen vergleichen mit jener in den 1960er-Jahren: Was ist Ihr Fazit?
Ich komme aus einer Generation von Künstlerinnen, denen man sagte, dass sie hart arbeiten und geduldig warten sollten. Dass ihr Werk noch reifen müsse, bevor es gezeigt werden könne. Wir mussten alt werden, um endlich ausgestellt, gekauft und anerkannt zu werden. Bis heute mangelt es an realer Gleichstellung für Frauen, auch in der Kunst. In Frankreich haben Künstlerinnen zu selten monografische Ausstellungen in den wichtigen französischen Museen. Daher strahlen sie international nicht aus. Ihnen fehlen auch öffentliche Aufträge, große Produktionsbudgets, Straßennamen und zweisprachige Publikationen. Das Kunstsystem spiegelt die Gesellschaft. Und diese unterstützt Frauen nicht.
Hat sich die Lage nicht verbessert für Künstlerinnen jüngerer Generationen?
Nicht genug! Natürlich, mehr Frauen stellen aus. Aber es geht mehr um junge Künstlerinnen. Wenn sie nicht mehr jung und aufgrund ihrer Jugend verführerisch sind: Dann wird es schwieriger.
Sind Sie als prominente Künstlerin für Jüngere ein Role Model?
Viele Menschen erkennen mich auf der Straße. Wenn ich in ein Restaurant gehe, muss ich manchmal Autogramme geben. Wegen meiner Haarfarben falle ich auf, doch viele kennen auch mein Werk. Ich bin manchmal im Fernsehen und im Radio. Und meine Werke stehen in vielen Schulen am Programm, dort wird darüber unterrichtet.
Es gibt viele verschiedene Feminismen, die einander zu meinem Leidwesen oft bekämpfen. Wie sehen Sie das?
Jede Bewegung hat ihre Differenzen, egal ob Feminismus oder Psychoanalyse oder andere Bereiche. Da passiert es, dass es Streitigkeiten gibt anstatt dass gemeinsame Werte verfolgt werden. Doch der gemeinsame Kampf ist wichtiger.
Sie nannten sich selbst im Ausstellungskatalog, den die Sammlung Verbund jetzt herausbrachte, eine Post-Neo-Alter-Feministin, was heißt das denn?
Dass es nicht wichtig ist, welche Art von Feministin man ist, sondern dass man eine ist! Nach der Initiative #BalanceTonPorc (Anmerkung: französisches Pendant zu #MeToo) unterzeichneten 100 schamlose Frauen, die an der Spitze der Gesellschaft stehen, eine Petition für das Recht auf Belästigung! Mit einem Handstreich wischten sie all jene Frauen weg, die mit ihren Geschichten endlich an die Öffentlichkeit getreten sind. Die Unterzeichnerinnen sind Teil des Widerstands, der in Frankreich entsteht, sobald Feminismus an Boden gewinnt. Viele Männer und Frauen wollten uns abhalten davon, das Wort Feminismus auszusprechen. Jene, die es taten, wurden erniedrigt – als hässlich, alt und ungefickt bezeichnet, als Puritaner·innen und Männerhasser·innen. Doch nun haben auch junge Frauen bemerkt, wie wichtig Feminismus ist. Sie sahen, wie viele Vergewaltigungen es gibt, wie viele Frauen durch ihre Partner sterben, wie viele geschlagen werden. Einige der Unterzeichnerinnen behaupteten sogar, dass man Vergewaltigung auch genießen könne. Aber sie sagten nicht dazu, dass Frauen ins Koma geprügelt werden, dass Vergewaltigung im Krieg als Waffe dient, wie wir es gerade sehen. Auch die Situation im Iran ist entsetzlich, ebenso in Afghanistan.
Es gibt global enorme Rückschläge gegen frauenpolitische Anliegen. Und in Teilen der USA sowiein Polen ist das Recht auf Abtreibung abgeschafft, was ebenfalls zu Leiden und Tod von Frauen führt. Überall in Europa sind die Rechten im Vormarsch. Ich frage mich, ob meine zehnjährige Tochter für den Rest ihres Lebens frei über ihren Körper entscheiden wird dürfen.
Ich bin pessimistisch. Aber ich lasse die Schultern nicht hängen.
Sind sie wütend?
Oh ja.
In Ihrer Kunst steckt aber auch viel Humor, viel Leichtigkeit. Sind Sie im Grunde eine glückliche Person?
Ja, das bin ich. Ich kann machen, was ich will, und das ist fantastisch. Ich bin sehr bekannt, das gibt mir viel Energie. Und wie lautet ein berühmtes Zitat der Guerrilla Girls? Eine Künstlerin zu sein ist fantastisch – die Karriere explodiert mit 80 Jahren!
