Wenn morgen die Ausstellung über die Art-Brut-Künstlerinnen im Kunstforum eröffnet (Kuratorinnen: Ingried Brugger, Hannah Rieger), freue ich mich besonders auf eine Künstlerin, deren Name nicht einmal bekannt ist. Sie wird nur „Frau St.“ genannt und hat bereits 1890 und 1891 Collagen geschaffen. Rund zweieinhalb Jahrzehnte, bevor Hannah Höch Schnittbögen und Zeitungsausschnitte auf Papiere klebte und Kurt Schwitters Fahrkarten als künstlerisches Material entdeckte.
Lebensdaten unbekannt
Jetzt kann man die „Bildnerei der Geisteskranken“, wie es der Psychiater Hans Prinzhorn 1922 nannte, zwar nicht eins zu eins mit der institutionellen Kunst gleichsetzen. Eine „Frau St.“ wollte wahrscheinlich nicht unbedingt die Kunst neu erfinden, im Gegensatz zu ihren nachgeborenen Kollegen und Kolleginnen. Und doch: Wenn man sich die Arbeiten ansieht, dann erscheint ihr Entstehungsjahr ganz erstaunlich. Ebenso erstaunlich ist, dass man kaum etwas weiß über die Künstlerin. „Lebensdaten unbekannt“ vermerkt der Katalog des Kunstforums. Immerhin ist sie in der Privatanstalt für Nerven- und Gemütskrankte Ober-Döbling in Wien nachweisbar. Ihre Arbeiten schickte ein Arzt von dort 1920 an die Psychiatrie Heidelberg, wo Prinzhorn Kunst von psychisch Erkrankten sammelte.

An den Rändern
Gisela Steinlechner, Expertin für die Art Brut, betont in einem Katalog der Sammlung Prinzhorn mit dem Titel „Irre ist weiblich“, dass Frau St. wohl „nicht aus Papiermangel auf das Zusammenklittern von Zeitungsresten verfallen ist.“ Schließlich sei sie wohl problemlos an Zeichenmaterial gekommen: Die Privatheilanstalt Ober-Döbling zählte zu den vergleichsweise luxuriösen Einrichtungen. Im Gegensatz zu ihren späteren Kolleginnen verwendete die Künstlerin aber nicht die besonders aussagekräftigen oder ikonischen Schnipsel aus Zeitungen, sondern gerade deren Ränder, oft unbedruckte oder solche mit nur wenig Text oder Daten darauf.
Eine der Arbeiten beschreibt Steinlechner sehr schön: „Aus den vertikal und horizontal verlaufenden Schnitt- und Klebestellen der unbedruckten Zeitungsränder, den angeschnittenen Textspalten und Rahmungen entsteht eine Art Raster – ein Parcours aus graphischen Abfällen und Zufallsbildungen. Diesem Raster oder Parcours lauscht Frau St. kleine formale und figurative Ereignisse ab.“ Gerne würde man im Kunstforum auch jenes riesenhafte Ding sehen, das man wohl als Opus Magnum der Frau St. bezeichnen kann (der Katalog verzeichnet es leider nicht, es wird wohl zu fragil sein): Auf 2,7 Metern stückelt die Künstlerin Zeichen und Mini-Porträts, Schriftfragmente und Muster aneinander. „Es gibt keinen Blickpunkt, von dem aus wir die Mikrostruktur dieses Flächenbrandes erfassen könnten und zugleich das Werk als Ganzes“, so Steinlechner.

Textilservices und Schriftbilder
Doch nicht nur Frau St. ist eine echte Entdeckung in dieser Ausstellung zu Art-Brut-Künstlerinnen. Es gibt auch solche wie Hedwig Wilms, die ein textiles Service bastelte (lange vor Claes Oldenburgs Soft Sculptures), Marie Lieb, die in ihrem Zimmer Textilien auslegte (think of Franz Erhard Walther) und Emma Hauck, die betörende Schriftbilder schuf (mir fiel dazu Hanne Darboven ein). Die Frage, inwiefern sie als Vorläuferinnen gelten können, bleibt spannend. Steinlechner umschreibt sie luzid im Fall der Frau St.: „Ein an der Avantgarde und an den Ästhetiken der Gegenwart geschulter Kunstsinn wird hier ohne Zweifel fündig werden, doch verstellt ein solcher Blick auch die Wahrnehmung, dass hier eben kein künstlerischer Resonanzraum, kein diskursives Netz vorhanden war, in welchem die Brüche mit der Konvention, das Expertimentieren mit Materialien und Formen immer schon bedeutungskonstitutiv sind.“ Und doch: Wer sich demnächst Gedanken zu Ausstellungen über Collage, textile Installation oder Schriftbilder macht, sollte diese berücksichtigen.

Unlängst stellte Swantje Karich in der „Welt“ – danke an zwei Leserinnen dieses Blogs für den Hinweis! – die Frage, ob die aktuelle Künstlerinnen-Präsenz nachhaltig sein werde. Zum Ende dieses sehr guten und instruktiven Textes fiel dann der Begriff „Wiederentdeckerwahn“. So lange es noch immer Werke wie das einer Frau St. zu entdecken gibt, werde ich diesem Wahn treu bleiben! Weil: Irre ist weiblich.