Sie hat etwas Ikonenhaftes, die Frau an der Fassade des Kunsthauses Bregenz. Wer mit dem Schiff im Hafen anlegt, kommt ihr nicht aus. Wachen Blickes beobachtet sie Vorübergehende an der Seepromenade, überlebensgroß, mit einer Haarpracht, die ein Heiligenschein sein könnte, in der zwei mädchenhaften Spangerln stecken. Es ist Anne Marie Jehle, die sich A. M. Jehle nannte – ein Künstlername, der das Geschlecht verschweigt.

Erst beim zweiten Hinschauen fällt auf, dass die Partie über der Brust gewissermaßen freigelegt ist: Ein Streifen durchschneidet den Pullover. Darauf ist der nackte Busen zu sehen, der aber wieder verdeckt ist vom Schriftzug „Kunsthaus“. Ausgeschnittene Buchstaben bilden ihn, so, als handle es sich um einen Erpresserbrief. Das Foto erinnert an einen Mugshot, ein Verbrecherfoto. Dort, wo die nackte Partie ist, halten die Inhaftierten manchmal Schilder mit ihrem Namen und Registriernummern. Die Hände darunter dagegen sind sittsam übereinandergelegt. Thomas Trummer, der Leiter des KUB, erinnerte das an die Mona Lisa, wie er sagte, als ich mit ihm, der Pressesprecherin Martina Feurstein und einem deutschen Kollegen die Arbeit besichtige.
Anne Marie Jehle hat das Bild ursprünglich als Katalogcover entworfen. Es dürfte aus den frühen 70er-Jahren stammen. Die Arbeit spielt mit dem Zeigen und dem Verbergen, kreuzt einen herausfordernden Blick mit einer Selbstentblößung und lässt sich einordnen in die internationale feministische Avantgarde ihrer Zeit. Dabei ist die Künstlerin über Vorarlberg und Liechtenstein hinaus kaum bekannt.
Die Frau als Haus
Auch Thomas Trummer stolperte mehr oder weniger zufällig über sie, nämlich in Texten von Silvia Eiblmayr. Die feministische Kunst in Österreich hat der Kuratorin viel zu verdanken, und über Jehle schrieb sie schon vor einigen Jahren. Die Arbeit „Kunsthaus“, so schreibt Silvia Eiblmayr in einem Katalog des Kunstmuseums LIechtenstein, nehme sie „institutionskritisch den provokant-rhetorischen Slogan der Guerrilla Girls ‚Do Women have to be naked to get into U. S. Museums?‘ von 1986 vorweg.“

Das „Kunsthaus“ in ihrer Arbeit bezieht sich freilich nicht aufs Kunsthaus Bregenz, das damals noch in weiter Ferne war, sondern auf sie selbst: Das Kunsthaus ist die Künstlerin. Natürlich fällt einer da sofort die Femme-Maison von Louise Bourgeois ein (ich glaube, erstmals sah ich die Arbeit eh in einem Seminar von Silvia Eiblmayr).
Die Kuratorin der Anne Marie Jehle Stiftung, Dagmar Streckel, schreibt in einem Buch der Galerie Hollenstein, wo Jehle gemeinsam mit der jüngeren Künstlerin Christine Lederer ausgestellt wurde, dass die Collage das Parallelisieren von „Gefäß, Haus und Lebensaufgabe“ veranschauliche: „von der Frau im Haus zur Frau als Haus, als Haus der Kunst, bis hin zur Kunst im Haus als Haus-Kunst. Am Ende dieser Entwicklung und Umdeutung des Konzepts ‚Haus-Frau‘ steht Jehles Identifizierung mit der Vorstellung ‚Haus‘: Ich selbst bin ein Haus, und zwar ein Kunsthaus.“

Jehle, Tochter wohlhabender Eltern, kam 1937 in Feldkirch auf die Welt und arbeitete seit den 1960er-Jahren als Künstlerin. Von einer künstlerischen Ausbildung ist in ihrer Biografie keine Rede. In Feldkirch bewohnte sie ein Haus, in dem die Kunst vor sich hinwucherte und mit Mobiliar und Alltagsgegenständen ineinander wuchs, wie Fotos zeigen. In zwei Vitrinen präsentierte sie Objekte, darunter eine Assemblage aus hohen Schuhabsätzen und einer Schachtel Waschpulver der Marke „Genie Automat“.

1989 verschloss und versiegelte sie ihr Haus und wanderte in die USA aus. 1993 kehrte sie nach Europa zurück und lebte in Liechtenstein sowie der Schweiz bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 2000. Das Haus wurde ausgeräumt. Heute ist ein Teil ihrer Arbeiten im Kunstmuseum Liechtenstein. Außerdem kümmert sich eine Stiftung um ihr Werk. Auf der Website heißt es: „Im künstlerischen Nachlass befinden sich bis dato 1628 Werke: Objekte, Malereien, Grafiken (Zeichnungen, Scherenschnitte, Collagen, Monotypien), Polaroidarbeiten, Fotografien, Rauminszenierungen“. In ihrer Materialwahl ist Jehle so vielfältig wie Meret Oppenheim.

„Im allgemeinen minderprivilegiert“
Zwar beobachtete Jehle intensiv die Fluxus-Bewegung, stellte ihre Arbeiten dort und da aus und war mit der Ländle-Avantgarde ihrer Zeit verbunden. Doch wahrscheinlich lebte sie später zu zurückgezogen, als dass sich großartig internationaler (oder auch nur nationaler) Erfolg einstellen hätte können. War Vorarlberg kein guter Standpunkt für eine größere Karriere, wie schon ein Ex-Vizekanzler einst an den britischen Finanzminister schrieb („The world in Vorarlberg is too small“)? 1973 schrieb Jehle in einer Art Lebensdokumentation: „Die Frau als Künstlerin hat es keinesfalls weniger schwer als ihre männlichen Kollegen – dies in Vorarlberg wie in den meisten Staaten überhaupt; sie ist a) benachteiligt durch ihre quantitativ-künstlerische Minderheitsstellung, b) kaum wirklich effektiv organisiert, c) in einer von und für Männer orientierten Gesellschaft im allgemeinen minderprivilegiert, d) im besonderen, wenn sie in der ‚Provinz‘ lebt und Kunst macht, die die herkömmlichen Begriffe von Kunst erschüttert.“

Irgendwie würd’s mich grad wahnsinnig reizen, über diese Künstlerin eine Biografie zu schreiben. Wer war sie bloß?

Disclaimer: Die Fahrtkosten von Wien nach Bregenz übernahm das Kunsthaus Bregenz.
Unbedingt jetzt schreiben, solange noch Personen leben, die sie kannten…
Nichts lieber als das! Weiß leider nicht, wie finanzieren 😐 Aber natürlich macht man sowas am besten, wenn noch Bekannte leben. Natalie Lettner hat mit ihrer Lassnig-Biografie ja übrigens eine Steilvorlage geliefert…
Danke KUB und Nina – sehr wichtige Arbeit! Ich finde auch, dass das „Kunsthaus“-Poster eine Referenz auf das Tap-und-Tast-Kino ist. Echt interessant.
Stimmt, wie AMJ mit Voyeurismus spielt, hat auch sehr viel mit VALIE EXPORT zu tun. Danke für den Hinweis!
Sehr interessant!
Find ich auch! Leider noch wenig bekannt. Aber vielleicht ändert sich das – hoffentlich!