Seit zehn, fünfzehn Jahren steht die künstlerische Forschung hoch im Kurs. Es gibt Institute, an denen sie ernsthaft betrieben wird, Stipendien, die halbwegs anständig dotiert sind, und auch die Kunstunis setzen mehr und mehr auf die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft. Eine erfreuliche Entwicklung, die aber noch am Anfang steht und sich einem größeren Publikum erst erschließen wird.

Pionierin des artistic research
Als Pionier*innen des artistic research kann eine Frau gelten, die im deutschsprachigen Raum zwar recht bekannt ist, in Österreich aber bisher kaum je ausgestellt wurde – oder vielleicht noch gar nicht? Bei einem verlängerten Wochenende – ausgerechnet in Kärnten, das kulturell eher so mittelmäßig am Radar ist (wenn nicht gerade Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ist) – stieß ich kürzlich auf diese Vorreiterin. Und zwar in der Stadtturmgalerie des pittoresken Städtchens Gmünd, das übrigens ohnehin einen Besuch wert ist. Dort stellt man nämlich gerade Arbeiten von Maria Sibylla Merian (1647-1717) aus, und natürlich drängte sich sofort die Frage auf, warum nicht irgendeine Institution in Wien das längst gemacht hat (die Albertina hätte zum Beispiel einiges in der Sammlung). Andererseits ist das ja vielleicht auch eine überhebliche Haltung; wieso soll immer alles in der Bundeshauptstadt als erstes stattfinden? Also freue ich mich lieber mit den Kärntner*innen über die Ausstellung dieser großartigen Frau.

Maria Sibylla Merian jedenfalls – viele kennen vielleicht prachtvolle Nachdrucke ihrer imposanten Blumen- und Raupenbücher – war Künstlerin UND Naturforscherin: 1647 kam sie in Frankfurt auf die Welt, als Tochter des Verlegers Matthäus Merian des Älteren. Sie erlernte bei ihrem Stiefvater Jacob Marrel das Kupferstechen und brachte ab 1679 umfangreiche Bände mit Naturabbildungen heraus; zahlreiche Blätter daraus zeigen Erika und Julia Schuster, die Kuratorinnen der Ausstellung. Sie heißt „Maria Sibylla Merian. Künstlerin. Naturforscherin (1647–1717)“ und läuft bis 2. Oktober, außerdem ist am Montag auch offen! Merians Arbeiten werden ergänzt durch solche von zeitgenössischen Künstler*innen – mal inspirierender (etwa die täuschend echt imitierten Äste von Alfredo Barsuglia oder die Selbstinszenierung von Irene Andessner), mal verzichtbarer (banale Nachstickereien muss ich nicht haben).

Heuschrecken, Raupen, Seidenspinner
Auf den Aquarellen und Kupferstichen, die hauptsächlich aus dem Sindelfingener Kunstkabinett Strehler stammen, kriechen Heuschrecken und Raupen über Granatapfelblüten, krabbeln Spinnen und Ameisen einen Guavenzweig hinauf, formieren sich Maulbeerbaumzweige mit Seidenspinnern zu dekorativen Kränzen. Es sind artifizielle Arrangements, doch sie stecken voller Leben und vereinen den akribischen, kühlen Blick der Naturforscherin mit dem unkonventionellen Zugang der Künstlerin. Das zeigt sich in der Ausstellung besonders dort, wo Vergleichsbeispiele ihrer Zeitgenossen zu sehen sind – diese fassen ihre Sujets weitaus formeller auf. Was natürlich ungleich langweiliger ist.
Geschäftstüchtig war Merian übrigens auch: Sie verkaufte ihre Bücher und handelte mit Farben. So finanzierte sie ihre Surinam-Reise, überhaupt ihr Leben. Von ihrem Mann, den sie mit 18 geheiratet hatte, trennte sie sich 20 Jahre später, um dann mit ihren zwei Töchtern ging nach Holland zu gehen. Sie war derart emanzipiert, wir können heute noch viel lernen von ihr.

Einflussreiche Naturforschungen
Was mich außerdem besonders beeindruckte: Merian reiste 1699, da war sie 52 Jahre alt, mit einer ihrer (erwachsenen) Töchter von Amsterdam nach Surinam. Das 52 von 1699 war ungefähr so wie das 90 von 2022, denn die Lebenserwartung lag weit darunter. Als sie nach einer langen und mühseligen Schiffspassage in Surinam angekommen waren, wohnten Mutter und Tochter in einer Hütte, gingen auf die Jagd nach Schmetterlingen und sonstigen Tierchen, sammelten Pflanzen. Später publizierte Merian aus den so gewonnen Erkenntnissen ihr Hauptwerk mit dem Titel „Metamorphosis Insectorum Surinamensium“. Darin beschrieb sie detailliert die dortigen Pflanzen und Tiere. Auch wenn Maria Sibylla Merian keine formelle biologische Bildung besaß, so wurden ihre Forschungen später sehr einflussreich: Carl von Linné, der die Systematisierung von Pflanzen und Tieren grundlegend erneuerte, stützte sich auf ihre Erkenntnisse. In einem Alter, da Frauen in Österreich bereits als zu alt für den Arbeitsmarkt gelten und uns bescheuerte „Frauenzeitschriften“ (nennen wir sie lieber Frauenhasszeitschriften) einzureden versuchen, wir müssten uns jetzt wirklich endlich um die Faltenreduktion bemühen, in diesem Alter riss Maria Sibylla Merian der Welt noch einmal einen Haxen aus.
Ich würde sagen: ein gutes Role Model.

Dankeschön für den Tipp und den schönen Text! Wäre Maria Sibylla Merian vielleicht auch eine strahlende Ikone, um endlich eine höhere Beteiligung und ein größeres Selbstvertrauen von Frauen in den MINT – Studien-fächern zu erreichen ?
Gern! Danke für das Kompliment. Ja, so könnte man Merian durchaus sehen. Sie hat schon als kleines Kind Raupen und Insekten gesammelt. Es gelang ihr, dieses Interesse fortzutragen, trotz aller geschlechtsspezifischen Hürden. Die es heute auch noch gibt, nur eben anders gelagert.
Super Artikel! Bitte mehr davon!
Danke! Ich bemühe mich 😉
Sehr interessant und schön geschrieben. Danke!
Oh, vielen Dank, das freut mich sehr. Maria Sibylla Merian war so eine spannende Persönlichkeit, in die ich mich gern noch weiter vertiefen würde.