Das Dorotheum versteigert eine Lucretia von Artemisia Gentileschi. Sie wirft Darstellungskonventionen über den Haufen.
Ich bin gespannt, wie sich die Preise der Alten Meisterinnen weiterentwickeln. Bei Artemisia Gentileschi ging es schon nach oben, auch bei anderen wie Clara Peeters und Michaelina Wautier.
Morgen Dienstag versteigert das Dorotheum eine „Lucretia“ von Artemisia Gentileschi (1593–1654), nicht nur Heldin weiblichen Kunstschaffens schlechthin, sondern auch der feministischen Kunstgeschichte. Auf 500.000 bis 700.000 Euro ist das Werk geschätzt, Kollegin Annegret Erhard in der „Welt“ meint: extrem ausbaufähig.

Die tragische Figur war seit der Renaissance ein beliebtes Thema in der Kunstgeschichte. Tizian, Marcantonio Raimondi, Tintoretto, Lucas Cranach d. Ä. und viele mehr interpretierten die Geschichte der römischen Edelfrau, die sich nach einer Vergewaltigung erdolchte und deren Selbstmord zu einem Regimesturz führte. Häufig benutzten die männlichen Maler das Sujet, um einen schönen weiblichen Akt zu zeigen. Besonders gut sieht man das in den Bildern von Cranach, dessen Frauenfiguren ja überhaupt ziemlich austauschbar sind, egal, ob Lucretia, Eva oder die Muttergottes: nackte Frau in schwankender Haltung, notdürftige Körperbedeckung, verklärter Blick – passt!

Artemisia Gentileschi hat schon einmal eine andere Interpretation des Themas gemalt, eine frühere Lucretia, heute im Palazzo Cattaneo-Adorno in Genua, datiert auf 1620/21. Mary D. Garrard beleuchtete sie in ihrer Monografie („Artemisia Gentileschi, The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art“, Princeton 1989) eingehend und kam zu interessanten Schlüssen. Die – alles andere als körperliche idealisierte – Lucretia ist hier ausnahmsweise nicht nackt. Sie reckt den Dolch in die Luft, hält ihn nicht gegen ihren Körper. Ein Moment des Zweifelns, des Abwägens sei hier abgebildet, meinte Garrard. Das zweite, was sie an diesem Bild so bemerkenswert fand: Die Heldin fasst sich an die Brust. Das erinnerte die Kunsthistorikerin an die Ikonografie der „Madonna lactans“, der stillenden Madonna. Artemisa stelle ihre Brust, „Symbol des Kreislaufs menschlicher Natur, neben das Schwert, das den Selbstmord repräsentiert.“

Auch die Lucretia im Dorotheum ist bemerkenswert. Garrard hat in ihrem Buch darauf hingewiesen, dass es eine typologische Parallele zwischen Lucretia und dem gekreuzigten Christus gebe. Marcantonio Raimondi hat die Römerin etwa mit ausgebreiteten Armen dargestellt, wie den Jesus am Kreuz. Zuerst hat mich die Dorotheum-Lucretia auch an die von Marcantonio erinnert: dieser rechte Arm, der da so eine dominante Horizontale bildet. Doch dann fiel mir noch etwas anderes auf. Der Dolch zielt nämlich – ähnlich wie bei Gentileschis älterer Variante – gar nicht auf ihren Körper. Er zielt auf die Seite, auf irgendeinen Punkt außerhalb des Bildes. Lucretia richtet ihre Waffe ins Leere. Außerdem stützt sich sich auf dem Bett auf. Ihre Beine sind so angewinkelt, als würde sie jeden Moment aufstehen und weglaufen wollen. Der Oberkörper bildet eine dynamische Diagonale. Auf diese Lucretia trifft dasselbe zu wie auf die ältere, die Garrard so schön analysiert hat: Auch sie scheint zu zweifeln, ja, vielleicht gar flüchten zu wollen.
Dieses Gemälde steht in Zusammenhang mit zwei ähnlichen Kompositionen anderer Künstler – einer von Simon Vouet, einer von Massimo Stanzione (das Bild war früher Gentileschi zugeschrieben). Doch die Dorotheum-Lucretia ist nahsichtiger, stärker herangezoomt, sie sprengt in ihrer Dynamik fast den Rahmen. „Eine menschliche, nachdenkliche Lucretia ist fast so selten in der bildenden Kunst wie Shakespeares Lucretia in der Literatur“, schrieb Garrard. Wie wenig hat jene von Gentileschi doch zu tun mit den tänzelnden Pendants von Cranach dem Älteren, die ihre Dolche wie Dekorationsobjekte halten! Es ist ein fantastisches Werk, und ich hoffe, es landet irgendwann in einem öffentlichen Museum.
Nachtrag 24. Oktober: Das Los erzielte 1,885 Millionen Euro, gekauft hat das Bild ein australischer Sammler. Ob wir das Original jemals wiedersehen?
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